interview
„Das Deutsch­land­ticket ist ein Geschenk“

Seit dem 1. Mai 2023 gilt das Deutschland­ticket für den Nahverkehr. Wir sprechen mit René Reimers und Malte Kock von der NSH Nahverkehr Schleswig-Holstein GmbH* über die erste Bilanz zum Start. 

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Wie bewerten Sie den Start des Deutschlandtickets in Schleswig-Holstein?

Reimers: Wir waren überrascht, wie das Ticket von der Politik auf den Weg gebracht wurde. Wir hatten es mit einer sehr kurzen Umsetzungszeit bei zunächst völlig unklaren und immer wieder geänderten Anforderungen zu tun. Vergleichbare Projekte werden in der Regel in 3 Jahren umgesetzt. Vor diesem Hintergrund haben wir die Einführung sehr gut hinbekommen – mit einigen Startschwierigkeiten. 


Zum Verständnis: Welche Rolle hatte die NSH bei der Umsetzung des Tickets?

Kock: Wir haben die Koordinierungsfunktion gegenüber den Verkehrsunternehmen, konkretisieren das, was von der Politik als Anforderung kommt. Die Tarifbestimmungen für das Deutschlandticket waren in vielen Details unklar. Auch die Vorgabe, dass es das Ticket als Handy-Ticket geben soll, konnte von einigen Unternehmen technisch nicht ohne Weiteres umgesetzt werden. Also haben wir kurzfristig Lösungen bereitgestellt, notwendige Beschlüsse getroffen und Bausteine zur Kommunikation geliefert.  


Warum sind schnelle Projekte für die Branche so herausfordernd?

Reimers: Wir haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass wir in der Lage sind, Projekte in kurzer Zeit umzusetzen – wenn die politische Entscheidung feststeht und das Geld da ist. Das Semesterticket zum Beispiel: Im März gab es das Go, im Folgejahr war das Ticket da. Ein Verkehrsverbund mit seiner Struktur und der Vielzahl an einzubindenden Partnern ist aber tatsächlich sehr komplex. 

Kock: Der Rahmen unserer Branche unterscheidet sich von anderen Bereichen. Wir bringen die Ideen und Vorstellungen von Politik, Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen zusammen. Ein Angebot muss für alle Seiten funktionieren. Bei der Umsetzung sind wir abhängig von Dienstleistern, zum Beispiel beim Vertrieb. Und die brauchen meist mehrere Monate Vorlaufzeit.


Wie geht es weiter mit dem Deutschlandticket?

Kock: Wir haben bereits das Jobticket ergänzt und Studierende sowie Freiwilligendienstleistende berücksichtigt. Jetzt denken wir über Mitnahmeregelungen oder Upgrades in die 1. Klasse nach. Deutschlandweite Einheitlichkeit ist uns wichtig. Regeln anderer Bundesländer funktionieren aber nicht so gut im Flächenland Schleswig-Holstein, wie etwa die Fahrradmitnahme. 

Außerdem wichtig: die Einnahmenaufteilung. Bisher nutzte ein Fahrgast eine bestimmte Strecke und zahlte dafür – die Einnahmen waren entsprechend einfach zuzuordnen. Das Deutschlandticket verändert diese Situation. Die Einführung der Chipkarte als Ausgabemedium ist die nächste große Herausforderung. Das dauerte in anderen Verbünden mindestens 2 Jahre. Wir haben 6 Monate. 


Welche Chancen bringt das Deutschlandticket für den Nahverkehr?

Kock: Das Deutschlandticket ist ein Geschenk und eine große Chance, Menschen vom Nahverkehr zu überzeugen. Das Hauptargument, den ÖPNV nicht zu nutzen, weil er zu teuer ist, entfällt. Ich hoffe, dass wir mit Unterstützung der Politik die restlichen Tarifangebote nachjustieren können. Gleichzeitig müssen wir das Augenmerk nun auf das Angebot richten, damit Bahn und Bus regelmäßiger fahren. Das Deutschlandticket ist nur ein Baustein für das Gelingen der Verkehrswende.


Sehen Sie auch Risiken?

Reimers: Das Deutschlandticket haben alle gleichzeitig und unter enormem Druck umgesetzt. Die Dienstleister in der Branche sind an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen. Künftig ist eine realistische Erwartungshaltung für die Einführung von Tarifangeboten wichtig. Der Druck, der durch politische Forderungen entsteht, ist den Entscheider*innen nicht immer bewusst.

* Die NSH ist die tarifverantwortliche Stelle für den Schleswig-Holstein-Tarif und Dachorganisation der ihn anwendenden Verkehrsunternehmen.